„Ich schäme mich für diese Mitbrüder“
Stephan Schonhardt, Pfarrer von Hergiswil, zu den jetzt publizierten Fakten über die vielen Missbräuche in der Katholischen Kirche.
Die Dimension, die Zahlen der Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche sind noch viel höher als bisher angenommen: was war Ihre erste Reaktion auf die neuste Studie der Uni Zürich?
Es ist eine Katastrophe, dass das Vertrauen, welches Gläubige in geistliche Personen setzten, schamlos ausgenutzt wurde. Und dass Priester, die eigentlich Jesus in den Sakramenten vertreten sollen, so weit abirren, ihren Stand pervertieren und zum Werkzeug des Bösen werden können. Es ist wichtig, dass die Kirche vor Ort und im Gesamten Massnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass solche Vorfälle nicht mehr vorkommen. Ich schäme mich für diese «Mitbrüder».
Warum war die Katholische Kirche bis jetzt nicht in der Lage klar zu sagen: ja, wir haben ein grosses Problem in unseren Kreisen?
Beim sexuellen Missbrauch von Minderjährigen handelt es sich um ein gesellschaftliches Problem – nicht nur um ein Problem der katholischen Kirche. Nur ist es besonders abscheulich, wenn im Rahmen der Kirche derartiges geschieht. Man weiss, dass es pro Jahr in der Schweiz 45’000 Fälle von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen in allen Schichten der Gesellschaft gibt. Vor allem in Familien, Sportvereinen und anderen Organisationen. Heute haben wir eine andere Sensibilität zu diesem Thema entwickelt als dies noch vor 40 Jahren der Fall war. Denken Sie an die 80er-Jahre zurück. Da haben Politiker gewisser Kreise sich für Praktiken mit Minderjährigen als charakterfördernde Massnahmen ausgesprochen. Ein übles Kapitel, dass bis heute nicht aufgearbeitet wurde. Und so muss das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Aufklärung dieser Verbrechen erst wachsen. Ich bin froh, dass die katholische Kirche seit einer gewissen Zeit darum bemüht, nun schonungslos aufzudecken, was in ihren Kreisen geschehen ist.
Immer wieder kommt zum Vorschein, dass Vorgesetzte bekannte Missbrauchsfälle unter den Teppich gekehrt haben, anstatt nötige Schritte zu unternehmen. Was bewog in Ihren Augen diese Kaderleute zu diesem Tun?
Vor allem manche Bischöfe und ihre Zuarbeiter haben in der Vergangenheit oft versucht, den sexuellen Missbrauch durch ihre Mitarbeiter zu vertuschen und zu leugnen, um Schaden von sich und der Kirche fernzuhalten. Dabei steht schon in der Heiligen Schrift, dass es nichts Verborgenes gibt, das nicht bekannt wird, und nichts Geheimes, das nicht an den Tag kommt. Aber auch Menschen in der Gemeinde vor Ort haben oft weggesehen. Oder, wie ich gestern gehört habe, dass es irgendwo einen Pfarrer mit dem Spitznamen «Pfarrer Tätschli» gegeben haben soll, dann haben alle irgendwie versagt. Von den Eltern, über die Mitarbeiter der Kirche bis hin zum Bischof.
Als Kernproblem der Missbrauchsthematik wird meistens die Sexualmoral der Kirche an den Pranger herangezogen. Wenn man das Problem wirklich lösen möchte, müsste nicht da der Hebel angesetzt werden, Stichwort Zölibat?
Dies ist ein oft gehörtes und sich immer wiederholendes Narrativ, das ich so nicht teile – und das sagen auch Psychiater und Psychotherapeuten. Wer sich an die – übrigens biblisch begründete – Sexualmoral der Kirche hält, begeht keinen Missbrauch. Man kann dies übrigens in der Ausgabe vom 13.9.2023 auch in der Nidwaldner Zeitung im Interview mit Herrn Urbaniok nachlesen, der Psychiater und Psychotherapeut ist. Wenn Sie den Zölibat als ausschliesslichen Grund heranziehen, dann stelle ich die Gegenfrage: wieso gibt es dann pro Jahr 45’000 Fälle von sexuellem Missbrauch in der Gesellschaft, die ja gar nicht nach dem Zölibat lebt? Nein, das Problem liegt jeweils in der unreifen oder krankhaften Persönlichkeitsstruktur der Täter, ob dies nun Priester, Ordensleute oder nicht geweihte Menschen sind. Ein Priester, der den Zölibat versprochen hat, muss auch ein Mann des Gebets sein, damit er diese Lebensform bejahen und leben kann. Die persönliche Christusbeziehung ist für mich das entscheidende Momentum. Dies gilt übrigens auch für eine gelingende Ehe im christlichen Sinn.
Ich bin froh, dass die Kirche Mitarbeiter nun systematischer prüft und genauer hinschaut, wer geweiht oder eingestellt wird. Wir mussten in der Priesterausbildung über Jahre mehrere Gespräche und Checks mit unterschiedlichen Psychologen durchführen. Die Kirche hatte hier schon 2008 eine hohe Sensibilität entwickelt. Hundertprozentige Sicherheit wird es aber in der Fläche nie geben können. Deswegen ist die Sensibilisierung im Team so wichtig. Es darf nie jemand allein mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Es braucht das Vier- oder Mehraugenprinzip. Natürlich ist dies in der persönlichen Seelsorge manchmal nicht einfach.
Hergiswil ist bis anhin von Missbrauchsfällen verschont geblieben: Was macht diese Gemeinde, was machen Sie richtig, um auch in Zukunft nie in solche Schlagzeilen zu kommen?
Ich hoffe und wünsche der Gemeinde, dass aus früheren Zeiten nicht noch etwas zum Vorschein kommt. Unsere Mitarbeiter sind mehrfach entsprechend geschult worden. Für uns gibt es klare Standards, wenn wir mit Kindern oder Jugendlichen arbeiten: Niemand darf sich allein mit Schutzbefohlenen in einem Raum aufhalten. Bei Jugendfreizeiten müssen stets mehrere erwachsene Personen dabei sein. Und es gibt Nachtwachen. Selbst wenn ein Ministranten-Gewand in der Sakristei nicht «richtig sitzt», müssen sich die Minis gegenseitig selbst helfen. Auch bei medizinischen Notfällen braucht es stets das Mehraugenprinzip. Mit den zahlreichen Schulungen sind wir – so meine ich zumindest – recht gut sensibilisiert.
Was kann eine kleine Gemeinde wie Hergiswil beitragen bei der Bewältigung dieser – man muss es so nennen – Krisensituation in der Katholischen Kirche?
Wenn ich als Geistlicher hier antworten soll: An erster Stelle sollte – das hört sich natürlich pathetisch an – die Festigung jedes einzelnen Mitarbeiters und Gläubigen in Jesus Christus stehen. Wenn wir von der Katholischen Kirche sprechen, dann sind ja nicht nur die Amtsträger betroffen, sondern auch alle Mitglieder der Kirche – also Eltern, Lehrer, Nachbarn, Schulkammeraden, Pfadi usw. Missbrauch ist ein grosses kirchliches und gesellschaftliches Problem. Und hier können wir viel tun: wir können auf Verhaltensänderungen reagieren. Kinder, die sexuell missbraucht wurden, können Verhaltensänderungen zeigen. Sie können z.B. ängstlicher oder zurückgezogener werden oder sich anders als üblich verhalten. Sie können Angstzustände entwickeln oder in Depressionen verfallen. Ich denke, eine erste Anlaufstelle kann immer auch die Schulleitung der Schulen in Hergiswil sein. Diese Leute sind hochprofessionell.
Auf dieser Webseite sind Adressen von Ärzten der Kinder- und Jugendmedizin aufgeführt, die weiterhelfen können bei Auffälligkeiten.
Missbrauchs-Betroffene: Ansprechpersonen für die Innerschweiz.
Lydia Leumann-Kohler,
Telefon 078 601 69 02, Email: lydia.leumann@gmx.ch
Dr. med. Carole Bodenmüller, Fachärztin für Kinder und Jugendmedizin FMH/SGP, Telefon 079 817 94 91, Email: carole.bodenmueller@hin.ch
Betroffenen steht es frei, auch Ansprechpersonen ausserhalb der Region ihres Wohnortes zu kontaktieren. Zur Übersicht.
Kantonaler Besinnungsgottesdienst
Im Zuge der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche wird ein kantonaler Besinnungsgottesdienst durchgeführt. Wir setzen gemeinsam ein Zeichen – am 22.09.2023 um 18.00 Uhr in der Pfarrkirche Stans.